Nützliche Modelle?

Konrad Tempel

Notizen für den Rundbrief des Bunds für soziale Verteidigung, Minden,
anläßlich des Todes von Danilo Dolci Ende Dezember 1997,
des 30. Todestages von Martin Luther King und des
50.Todestages von Mohandas Karamchand Ghandi, 1998

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Manch einer der Jüngeren unter uns hat vielleicht nie etwas über Danilo Dolci und sein
Wirken auf Sizilien gehört, weiß nichts über den umgekehrten Streik - eine Straßensanierung
trotz behördlichen Verbots - und die durch ihn inspirierten Massendemonstrationen
zugunsten eines Staudamm-Baus. Weithin unbekannt im europäischen Raum
ist vermutlich auch sein Studienzentrum für Vollbeschäftigung und die selbstorganisierten
Verbesserung der Infra-Struktur in Westsizilien durch Einrichtung von Kindergärten,
Krankenstationen, Schulen und Banken - nur vergleichbar den späteren Bemühungen
der Gruppe um Cesar Chavez, die den rechtlosen und benachteiligten mexikanischen
Wanderarbeitern in Kalifornien zu neuem Selbstbewußtsein verhalfen.
Als in den 50er und 60er Jahren junge Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten nach
anregenden Modellen für ihre eigene politische Arbeit Ausschau hielten, stießen sie -
durch das englische Wochenblatt PEACE NEWS und die WAR RESISTERS’ INTERNATIONAL
- auch auf die provozierenden Aktivitäten und Publikationen von Danilo
Dolci. So hat sich der Aktionskreis für Gewaltlosigkeit in Hamburg von ihm anregen
lassen, der u.a. 1957 die ersten Trainings ‘für vernünftiges Konfliktverhalten’ durchführte
und die erste deutsche Einzelveröffentlichung von Henry David Thoreaus ‘Klassiker’
über den zivilen Ungehorsam Widerstand gegen die Regierung von 1849 vorlegte
(eine Schrift, die Tolstoi ebenso wie Gandhi, King und Mandela beeinflußt hat).
Auch die Gruppe um Theodor Ebert und Günter Fritz in Stuttgart, die u.a. die Gewaltfreie
Zivilarmee konzipierte, war von dem sizilianischen Experiment in Gewaltfreiheit
fasziniert und trug eine Zeitlang publizistisch zur Verbreitung von Dolcis Wirken bei.
Parallel dazu griffen progressive Christen wie Walter Dirks die Ideen und die konstruktive
Ermutigungs-Praxis auf und versuchten, sie im kirchlichen Raum bekannt zu
machen.


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Natürlich fanden diejenigen, die an gewaltfreien, im tieferen Sinn revolutionären Entwicklungen
interessiert waren, auch andere Modelle vor: Mochandas Karamchand
Gandhi und den für die weltweiten Befreiungsbewegungen immer wichtiger werdenden
Martin Luther King, der 1955 - auf Drängen eines Schlafwagenschaffners - die Führung
des Bus-Boykotts in Montgomery im Süden der USA übernommen hatte. Während
der Rechtsanwalt und Bürgerrechtler Gandhi weit über 50 Jahre in Südafrika und
Indien wirken konnte und sich das Lebenswerks des Architekten und Sozialarbeiters
Dolci über 45 Jahre erstreckte, hatte der Baptisten-Pastor King nur 13 Jahre, um mit
unzähligen anderen Bürgerrechtlern und ‘Freiheits-kämpfern’ den erniedrigenden
Rassismus infragezustellen, Amerika aufzurütteln und sich damit unserer Zeit einzuprägen.
Die abständige Durcharbeitung des Denkens und Wirkens von Gandhi und die kritische
Betrachtung der indischen Veränderungsprozesse begann in Deutschland etwa
zehn Jahre nach seinem Tod und hielt - soweit erkennbar - bis in die 80er Jahre an.
Die intensive kritische Beschäftigung mit den zur selben Zeit sich entfaltenden Widerstandsbewegungen,
für die die Namen Dolci und King stehen, wurde erst mit einer
gewissen Verzögerung aufgenommen, vermutlich einerseits, weil die bildhaften, einprägsamen
Handlungsweisen in USA und Kings Charisma emotional so bewegend
waren, daß das Nachdenken darüber in den Hintergrund trat, und andererseits, weil
sich im engeren Raum Westsiziliens weniger Menschen in weniger spektakulären
Vorhaben engagierten und weil Dolci selbst ungleich zurückhaltender auftrat als sein
geistiger Bruder jenseits des Atlantiks. Als in den 70er Jahren in Sizilien die ‘Kleinarbeit’
und in USA nach der Widerstandsphase die Politikphase der kleinen Schritte begann
und die Medien in solchen Bemühungen, die auf breiter Basis und ohne Aufsehen
erfolgten, keine Nahrung mehr fanden, erlahmte nicht nur das Welt-Interesse für
diese gewaltfreien Innovationen, sondern auch die Aufmerksamkeit derer, die in Europa
mit denselben Methoden und im selben Geist tätig waren.

 

Kaum Interesse trotz nützlicher Ansätze?

Es ist wahr: die durch diese Namen repräsentierten sozialen Bewegungen sind unter
ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstanden, als wir sie in der mitteleuropäischen
Industrielandschaft vorfinden.
Dies mag ein gewisses Des-Interesse an Gandhi, King und Dolci in bürgerrechtlichen
und pazifistischen Gruppen begründen. Erschwerend kommt hinzu, daß über die
nachwievor anhaltende, stille Befreiungsarbeit in jenen fernen Regionen wird wenig
publiziert wird (eine Ausnahme ist dabei die querdenkende Monatschrift GRASWURZEL
REVOLUTION).
Aber es ist auch wahr, daß alle drei Bewegungen eine Fülle von Elementen enthalten,
die gleichermaßen manche Einzelne hier bei uns bereichern und stärken und manche
Verbände zu einer Modifizierung ihrer eigenen Strategien anregen könnten. Gerade
dazu haben im Rahmen der vorletzten Jahrestagung des Bunds für Soziale Verteidigung
die auf einander bezogenen Referate von Barbara Müller und Uli Wohlandt einen
instruktiven Beitrag geleistet, indem sie detailliert die sozio-ökonomische Zielrichtung
mehrerer gewaltfreier Kampagnen herausgearbeitet (King, Dolci, Chavez),
diese mit der aktuellen deutschen Situation verknüpft und damit die Einbeziehung eines
neuen Bereichs in die BSV-Politik bewirkt haben.
Erstaunlich ist, daß in allen drei Bewegungen und den Aussagen und Praktiken ihrer
Repräsentanten - ungeachtet vieler soziokultureller und regionaler Besonderheiten -
deutliche und herausfordernde Ähnlichkeiten erkennbar sind:

 

Stimulierende Übereinstimmungen

1 Alle Bewegungen gründen sich auf eine sensible Wahrnehmung von struktureller
Gewalt und einer durch die Empörung über das Unrecht entwickelten hohen Motivation
zur Veränderung.
2 Ihre zentralen Persönlichkeiten entwickeln eine greifbare Vision von besseren gesellschaftlichen
Gegebenheiten und sind in der Lage, diese ihren Mitstreitern zu vermitteln.
3 Auf dieser Grundlage setzen diese Bewegungen beim notwendigen NEIN zu vorgefundenen
Erniedrigungen an und artikulieren sich in zähem, kontinuierlichen Widerstand
durch Demonstrationen und zivilen Ungehorsam. Zugleich - und das wird leicht
übersehen - betonen sie das JA zu einem konstruktiven Programm, wie Gandhi die
notwendige Aufbauarbeit nannte (entsprechend lauten die beiden Leitideen des BSV:
Rüstung und Militär abschaffen / Konflikte gewaltfrei austragen).