Hören und Handeln -

Erfahrungen aus 50 Jahren Friedensarbeit

Vortrag von Helga Tempel im Rahmen der Tagung „Was uns leben und kämpfen läßt - Zur Einheit von Spiritualität und Weltverantwortung in einem christlichen Leben...”, Evangel. Akademie Arnoldshain, Oktober 2003

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1. Biografisches

2. ".....Und soll durch dich gebaut werden, was lange wüst gelegen ist "
Was bedeutet für mich Weltverantwortung ?

3. "....Du wirst sein wie ein gewässerter Garten...."
Was mich leben und kämpfen läßt

4. "...dass man da wohnen möge."
Drei Beispiele

5. "Dein Dunkel wird sein wie der Mittag"
Was bedeutet das Wirken in der Welt für mich und mein Leben?

6. “Same des Friedens werden”
Friedensarbeit in friedlosen Zeiten

In diesem Erfahrungsbericht wird nicht nur von mir, sondern zugleich auch von Konrad Tempel die Rede sein, mit dem mich seit fast 50 Jahren eine tiefe Überzeugung in Bezug auf unseren Ort in der Welt verbindet. Gestatten sie mir daher, Auszüge aus unserem Trautext diesem Bericht voranzustellen:
Bei Jesaja 58 heißt es:
Das aber ist ein Fasten das ich erwähle: Laß los, welche Du mit Unrecht gebunden hast, laß ledig welche Du beschwerst; gib frei, welche Du drängst; reiß weg allerlei Last; brich dem Hungrigen sein Brot und die, so im Elend  sind, führe ins Haus; so du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh Dich nicht von Deinem Fleisch ...".

Der Text mündet in Verheißungen, die ich an anderer Stelle zitieren bzw. einzelnen Abschnitten voranstellen werde.

1. Biografisches

Ich wurde im Jahr vor der Machtergreifung Hitlers geboren und wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Die entscheidenden Jahre meiner Kindheit waren geprägt vom Erleben des Faschismus und des Krieges sowie von einer Erziehung in Schule und Hitlerjugend, die auf Härte und Abtöten der Individualität zielte. Die frühen Erfahrungen des Ausgeliefertseins und der existentiellen Angst in den Bombennächten führten zu einer tiefen Verunsicherung und Ohnmachtsgefühlen. So empfand ich bereits als Dreizehnjährige die Befreiung von der Gewaltherrschaft auch als innere Befreiung und die auf einen wirklichen Neubeginn ausgerichtete Stimmung der ersten Nachkriegsjahre als eine Herausforderung für uns alle, gerade auch für uns Junge.

Wie ein Schwamm sog ich auf, was uns unter dem Motto ”nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg” zugänglich wurde. Ermutigt durch Leitbilder wie Albert Schweitzer oder Fridtjof Nansen entstand Vertrauen in die Veränderbarkeit des Menschen und sehr früh schon der Wunsch, dazu beizutragen - auch durch den von mir gewählten Beruf der Lehrerin.
Die schon bald sich abzeichnende gegenläufige Entwicklung durch die umstrittene Wiederbewaffnung, vom Aufbau der Bundeswehr und der Einführung der Wehrpflicht in den 50er Jahren bis hin zur Eskalation des Kalten Krieges und der in Folge geplanten atomaren Aufrüstung, ließen mich hellhörig werden und riefen, je älter ich wurde, meinen Widerstand hervor. Zusammen mit Konrad Tempel, meinem späteren Lebenspartner, setzte ich mich - schon damals gestützt durch die Quäker - für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein und vertrat die ersten Verweigerer bei ihren Verfahren. Wir arbeiteten gegen zementierte Feindbilder, beschäftigten uns einerseits mit Zivilem Ungehorsam nach Thoreau und andererseits mit Gandhi und den Möglichkeiten zur gewaltfreien Verteidigung und riefen die Ostermärsche gegen die atomare Bewaffnung in Ost und West ins Leben. Über zahlreiche gewaltfreie Aktionen, die wir anregten und organisierten, und die Entwicklung von entsprechenden Trainingsprogrammen versuchten wir uns mit vielen internationalen Mitstreitern in der Gründung einer Weltfriedensbrigade, der Vorläuferin der gegenwärtigen, verdienstvollen Peace Brigades International und der im letzten Jahr in Indien gegründeten weltweiten Nonviolent Peaceforce. Durch unsere Friedensarbeit auch in internationalen Gremien lernte ich die Quäker
kennen und wurde Mitglied in der Religiösen Geselllschaft der Freunde, wie deren Name nach dem Johannesevangelium lautet. “Ihr aber seid meine FREUNDE,so Ihr tut, was ich euch sage.” Nach den Jahren, die vor allem der Erziehung unserer drei Kinder gewidmet waren, arbeitete ich im Friedensausschuß der Quäker mit. Wir beteiligten uns an einer ganzen Reihe von nationalen und internationalen Quäkeraktionen,
die wir häufig mit vorbereitet hatten, von Mahnwachen vor der europäischen Waffenmesse bei Paris bis hin zur Blockade des Raketenstützpunktes Mutlangen.

Als Vertreterin der deutschen Quäker war ich Gründungsmitglied des forumZiviler Friedensdienst und bin bis heute dessen Vorsitzende. Im Rahmen des entsprechenden Programms der Bundesregierung bilden wir Friedensfachkräfte aus und entsenden sie auf Anforderung lokaler Partner in Krisenregionen, wo sie unterstützend, beratend und vermittelnd mit dem Ziel der Konflikttransformation tätig werden.

2. "...Und soll durch Dich gebaut werden, was lange wüst gelegen ist" Was bedeutet für mich Weltverantwortung

?Hin und wieder , aber doch für mich noch zu oft, höre ich den Vorwurf: Als religiös orientierte Menschen solltet Ihr Euch zurückhalten von zu stark auf die Welt gerichteten Aktivitäten. Ich vernehme hier eine Spaltung in das Eigentliche – nämlich das Spirituelle – und das Uneigentliche, Zweitrangige – die Welt. Dies aber trifft nicht die von mir erfahrene und gelebte Wirklichkeit. Für mich gehören Spiritualität – und das heißt für mich besonders das Warten auf Führung durch die innere Stimme - und das daraus folgende Handeln in der Welt untrennbar zusammen, wie dies das Thema dieser Tagung ja auch nahelegt. Gerade auch als Quäkerin kann ich die Spaltung in innen und außen nur schwer nachvollziehen. Ich sehe mich als Teil dieser Welt, möchte in die Welt hineinwirken. In unserer Gemeinschaft sprechen wir in diesem Zusammenhang häufig von dem von uns geforderten Zeugnis, einem Zeugnis für Wahrheit, für Einfachheit, für Gerechtigkeit, für Gleichheit vor Gott und den Menschen, für Frieden und Leben.Solch Zeugnis zu leben heißt für mich - antworten auf die Herausforderungen, die mir entgegentreten, kreativ und konstruktiv antworten auf den Ruf derer, die Not leiden, die uns brauchen,
- antworten, wo Gewalt herrscht und Menschenrechte mißachtet werden, aber auch - antworten, in dem wir - wie wir Quäker sagen - “unser Leben sprechen lassen.”.... - antworten auch als Bürgerin dieses Staates – Gegenposition beziehen, informieren und aufklären, Einhalt gebieten, konstruktiv entgegenwirken, sich verweigern, sich widersetzen, auch durch Zivilen Ungehorsam – und sei es auch nur symbolisch – bis hin zu tätigem Widerstand gegen bedrohliche, ja menschenverachtende Entwicklungen, auch wenn dies meine bürgerliche Existenz gefährden sollte. Ich fühle mich immer wieder neu gerufen zum Antworten, zum Handeln in der Welt
und für die Welt und höre mit dem Propheten Jesaja ( 6, 8) “die Stimme des Herrn, dass er sprach: Wen soll ich senden, wer will unser Bote sein. Ich aber sprach: Hier bin ich, Herr, sende mich!” - und ich kann nicht anders, als zu folgen. Unser Thema fragt nach unserer Verantwortung in der Welt , was ethymologisch auf das total, also umfassend wahrzunehmende Antworten hinweist, ein Antworten, bei dem wir als ganze Person gefragt sind und mit dem wir die Zuschauerhaltung überwinden, von der Dorothee Sölle sagt “Die ästhetische Haltung des Zuschauers ist in gewissem Sinn die Ohnmacht der Sünde. Dies immer, wenn ich der Ohnmacht Platz
in meinem Herzen gebe und mit meinem Leben etwas passieren lasse, was eigentlich nicht geschehen soll und von dem ich weiß, dass es falsch ist. Dann bin ich weg von Gott, dann bin ich in der Sünde, dann bin ich tot.” Indem ich aber antworte, ja, mehr noch, ver-antworte, nehme ich mich selbst als lebendig und als Teil des Ganzen wahr, bringe mich ein in die notwendigen Veränderungsprozesse und lasse die Ohnmacht hinter mir Ver-Antworten heißt jedoch auch, dass ich einzustehen habe für mein Tun, mit dem ich womöglich andere verunsichert, ja bedrängt habe (so z.B. im Fall der sog. Nötigung durch Sitzblockaden). Es heißt, uns auch der weltlichen Kritik zu stellen. Unorthodoxe Positionen, besonders aber widerständiges Handeln erzeugen oft Reibungen, Störungen im Sinne des “Wie kannst du nur?” Immer wieder haben wir uns daher
zu prüfen, ob unser Handeln rechtens und als ein – auch noch so kleiner - Schritt auf dem Weg zum Reich Gottes zu verstehen war. Zu oft wird jedoch übersehen, dass auch unser Nichts-Tun, unser Wegschauen –
und wer kennt dies nicht? – einer solchen Rechtfertigung bedarf, auch wenn es weniger “anstößig” erscheint als entschiedenes Handeln. Gerade die Mächtigen dieser Welt, diejenigen, die Verantwortung tragen, möchten uns Engagierte gern ins Abseits drängen, verlangen Anpassung von uns und werfen uns selbstbezogenen Aktionismus und Blindheit gegenüber den Sachzwängen vor. Es gibt jedoch auch Situationen, in denen fällt es mir schwer, mir Zeit und Muße für diesen inneren Prozeß der Klärung zu nehmen, Zeiten, in denen der Schrei der Opfer nach Hilfe und der Zorn gegenüber denjenigen, die dafür verantwortlich sind, so stark wird, dass meine ganze Person betroffen ist. Ich m u s s einfach etwas tun, ich muss Solidarität mit den Leidenden bezeugen und gegensteuern, um weiterleben zu können, um vor mir und der Kraft, aus der ich lebe, zu bestehen.
Welt-Verantwortlich handeln heißt also für mich, die Folgen für alle Beteiligten zu bedenken, mein Tun gegen das Nichts -Tun abzuwägen, immer wieder innezuhalten und mich zu prüfen, worum es mir wirklich geht und immer neu mich auszurichten auf das, was mich trägt und ermutigt. In 50 Jahren Friedensarbeit habe ich wiederholt erfahren, dass für mich alles Dunkle, alles Gefährliche und Beängstigende in der Welt dann eher zu ertragen ist, wenn ich die Kraft finde zu einem Handeln, durch das die Welt heller werden könnte.

3. "....Du wirst sein wie ein gewässerter Garten...."Was mich leben und kämpfen läßt

Ich habe bisher vor allem über das Handeln gesprochen, ein Handeln, dessen unverzichtbare
Grundlage für mich das Hören, das Horchen und Gehorchen ist.
Ohne dass ich weiß, wie ich gemeint bin, wie ich meinen Auftrag in der Welt zu
verstehen habe, ohne daß ich weiß, aus welcher Kraft ich lebe oder zumindest leben
möchte, bleibt mein Wirken Willkür. Ohne die Rückkopplung mit dem, was mich trägt,
werde ich zu einem Blatt im Winde, das sich treiben läßt, ohne zu wissen wohin.
Woher aber kommt mir die Wegweisung. Wie erfahre ich, wo mein Ort ist? Es sind
vier Quellen, die ich hier benennen möchte:
1. Das Beispiel, das Jesus von Nazareth mit seinem Leben und Wirken gesetzt
hat, ist für mich in herausragender Weise eine Quelle des Ansporns und der Ermutigung
– und die Bergpredigt nimmt hierbei eine besondere Stellung ein. Auch
im Alten Testament finde ich wichtige Impulse für mein Tun, besonders bei den
Propheten, wo wir auch den Text fanden, unter den wir unser gemeinsames Leben
stellten.
2. Quellen der Kraft finde ich auch dort, wo ich mich mit Gleichgesinnten austausche,
mit ihnen zusammenarbeite, wo ich ihr Engagement und ihre Kraft erlebe
und etwas von deren Ursprung ahnen kann.
3. Und ebenso erfahre ich Ermutigung aus dem Leben und dem Werk von Menschen,
die in überzeugender Weise ihr Leben sprechen ließen und neue Wege
aufgezeigt haben, seien es nun Martin Luther King, Dorothee Sölle oder Don Helder
Camara oder auch die unentwegte Kämpferin für Frieden und Versöhnung,
Hildegard Goss-Mayr, der ich vor kurzem zuhören durfte .
4. Hervorgehoben sie jedoch mein Zugang zum Spirituellen durch die Weise der
Quäker .Es ist kein Zufall, dass mein Weg mich als Folge meiner tiefen Abneigung
gegen Krieg und Gewalt bereits in jungen Jahren in diese Gemeinschaft führte. Hier
hoffte ich, die Gemeinde zu finden, die im achtsamen Umgang mit anderen und im
Streben für Gerechtigkeit auf eine veränderte, aus dem Kreislauf von Haß und Gewalt
befreite Welt hin lebt und wirkt.
Wir FREUNDE, wie wir uns nennen, üben uns im Stillsein und Hören. In der schweigenden
Andacht öffnen wir uns dem, was außerhalb unserer selbst ist, treten in Beziehung
zu dem, was alles Lebendige zusammenhält und auch uns trägt und begegnen
“dem von Gott im anderen Menschen.” Im Miteinander der Stille wird uns deutlich
– biblisch gesprochen: offenbart sich uns – welchen Weg wir einschlagen sollen,
und wir spüren – meistens – die Kraft, ihm zu folgen.
Im gegenseitigen, auch kritischen Austausch hinterfragen wir diese Botschaft, vor
allem aber stützen und ermutigen wir einander und begleiten uns im Handeln.
Ich erlebe dies Geführtsein als innere Sicherheit, als Gewißheit gewachsen aus gewissenhafter
Prüfung. Es wirkt in uns und durch uns und leitet uns wie ein Kompaß
des Glaubens und der Hoffnung.
Die Tradition der Quäker als “Friedenskirche” (ein Begriff, den ich nur ungern benutze,
weil ich denke, jede Kirche sollte Friedenskirche sein), diese Tradition gibt uns
Halt, auch wo wir zu zweifeln beginnen (etwa wenn es um sog. humanitäre, aber
eben doch gewaltsame Interventionen geht). Wir erinnern uns dabei an das sog.
Friedenszeugnis von 1660, mit dem die Quäker dem englischen König ihre Haltung
erläuterten ”Allen Krieg mit äußeren und verletzenden Waffen, gleich zu welchem

Zweck und unter welchem Vorwand, lehnen wir ab: Unsere Waffen sind geistig und
nicht materiell. Unsere Schwerter sind verwandelt zu Pflugscharen und unsere Speere
zu Sicheln, wie es prophezeit worden ist. Daher können wir nicht länger Krieg erlernen....
Der Geist Christi, von dem wir geführt werden, ist nicht wandelbar, so daß
er uns nie veranlassen wird, gegen irgendjemanden mit verletzenden Waffen zu
kämpfen - nicht für sein Reich und nicht für die Reiche dieser Welt....”. Dies mehr als
300 Jahre alte Friedenszeugnis hat vor allem als immer neu gelebte Friedenshaltung
für uns Bedeutung und fordert uns heraus.
Die genannten Quellen - das Leben Jesu und die Propheten des Alten Testaments,
die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten und die Leitbilder der uns vorangegangenen
Menschen sowie die Teilhabe am Leben der Quäker – diese Quellen also wirken
zusammen wie ein Brunnen, der sich immer neu speist, entsprechend der verheißungsvollen
Zusage in unserem Trautext:: “Und Du wirst sein wie ein gewässerter
Garten und wie eine Wasserquelle, der es nimmer an Wasser fehlt; und soll durch
dich gebaut werden, was lange wüst gelegen ist, und du wirst Grund legen, der für
und für bleibe....dass man da wohnen möge.”


4. “daß man da wohnen möge” 3 Beispiele verantwortlichen Handelns

– unter diesen letztzitierten Worten möchte ich im folgenden an drei Beispielen erläutern,
wie sich jeweils in mir, in uns die Entscheidung zum Handeln herausgebildet hat:
1. Von uns Hamburger Lehrerinnen wurde in den achtziger Jahren durch einen Erlaß
der Schulbehörde verlangt, auch unsere Grundschüler im Rahmen von sog. Zivilschutzübungen
über das Verhalten bei einem atomaren Angriff zu unterweisen
und sie bei entsprechenden Alarmübungen in die vorhandenen Kellerräume zu führen.
Ich weigerte mich, den Erlaß gegenzuzeichnen und begründete in einem Schreiben
an meinen dienstvorgesetzten Schulrat, dass ich dieser Anordnung aus Gewissensgründen
nicht Folge leisten würde.
Ich erhielt eine Bestätigung über die Weiterleitung meines Einspruchs an die Senatorin
- und habe nie wieder etwas in der Sache gehört. Entsprechende Übungen fanden
in Hamburg nie statt.
Hier wußte ich von Anfang an mit innerer Sicherheit, was zu tun sei. Ich konnte es
nicht verantworten, Kinder einerseits massiv zu ängstigen und andererseits in der
falschen Gewißheit zu wiegen, es gebe bei einem atomaren Angriff wirksamen
Schutz durch die empfohlenen Maßnahmen. Auch zu erwartende disziplinarische
Folgen und das Unverständnis einige meiner KollegInnen hielten mich nicht von
meiner Entscheidung ab.
2. Es war in Hoch-Zeiten des Kalten Krieges. Als Initiatoren der Ostermarschbewegung
waren Konrad Tempel und ich vielfältigen Anfeindungen und Diffamierungen
ausgesetzt und gerieten in ein sehr spannungsreiches Verhältnis zum Staat. Da kündigte
sich das sowjetische Fernsehen an und bat um ein Interview. Wir ahnten,
dass wir auch zu den Anfeindungen befragt werden würden. Dürften wir uns zubilligen,
vor dem Fernsehen des Gegners die Verantwortllichen in unserem Staat negativ
zu kritisieren? Andererseits wußten wir, dass wir auch zur Unterdrückung jeder
Opposition in der DDR nicht würden schweigen können. Würden uns entsprechende
Äußerungen verübelt werden? Würde das ganze Interview nicht unsere Beschäftigung
im Schuldienst gefährden und unsere politische Arbeit belasten? Über Tage
hinweg hielt unsere Unsicherheit an.

Wir suchten Gespräche mit anderen, gingen in die Stille, horchten nach innen, fragten
uns auch, was wohl Jesus getan hätte – und wußten nach einigem Ringen: ein
Zeugnis für die Wahrheit war von uns gefordert. Wir wollten uns nicht selbst verbieten,
das zu sagen, was uns wichtig war, ungeachtet der Folgen.
Das Fernsehteam erschien, das Interview verlief undramatisch, wir konnten frei sprechen
– aber wir hörten nie, in welcher Form es ausgestrahlt wurde. Uns selbst geschah
nichts, was uns beeinträchtigt hätte.
3. Wiederum anders verlief eine Protestaktion angesichts des Kosovo-Krieges.
Wir waren angesichts der verpaßten Chancen für eine gewaltfreie Lösung einerseits
und der als “humanitär” begründeten ersten Intervention deutscher Truppen auf
fremden Boden aufgebracht und zugleich hilflos. Wir sahen mit Enttäuschung, wie
um uns herum der anfängliche Widerstand angesichts der fingierten Gräuelberichte
schwand und warteten auf eine passende Gelegenheit, uns deutlich artikulieren zu
können. Da flatterte ein Aufruf einer uns nahestehenden Organisation ins Haus, in
dem die Soldaten beider Seiten aufgefordert wurden, ihrem Gewissen zu folgen und
sich nicht weiter an den Kämpfen zu beteiligen.
Ohne längeres Nachdenken unterzeichneten wir beide diesen Appell – und wurden
nach einigen Monaten angeklagt, wir hätten zur Desertion aufgerufen. Wir mußten
uns trotz wiederholt erlangten Freispruchs Prozessen über mehrere Instanzen unter
Androhung beträchtlicher Strafen unterziehen, bis endlich nach 24 Monaten die
Staatsanwaltschaft endgültig ihren Widerspruch gegen den Freispruch des Landgerichts
zurückzog.
Gedankliche Klarheit im ersten Fall, Gewißheit nach längerer Prüfung im zweiten und
schließlich spontanes Handeln aufgrund einer lange gewachsenen Überzeugung
gaben in unterschiedlichen Situationen den Impuls für unser Handeln.

4. "Dein Dunkel wird sein wie der Mittag"
Was bedeutet das Wirken in der Welt für mich und mein Leben?

Friedensarbeit bewirkt einerseits Veränderungen in mir. Sie ermöglicht mir, in
Übereinstimmung mit mir selbst zu leben, meine Kräfte und Möglichkeiten zu spüren
und sie konstruktiv einzusetzen. Sie öffnet mir den Zugang zum inneren Frieden.
Friedensarbeit hat andererseits Veränderungen in uns selbst zur Voraussetzung,
Veränderungen die dort möglich sind, wo wir in Kontakt zu unseren Wurzeln treten
und unsere Fühler ausstrecken zu dem, was uns trägt.
Wenn ich frage und höre, wie ich gemeint bin, woran ich arbeiten und woraufhin ich
leben möchte, dann denke ich an
1. Meine Sehnsucht nach Ganzheit
2. Mein Streben nach Befreiung
3. Mein Wunsch, Liebe und Vertrauen zum Leuchten zu bringen
Aus diesen drei Perspektiven erwachsen wichtige Impulse für die Arbeit an mir selbst
und für andere – und ich möchte ihnen daher kurz nachgehen
1. Meine Sehnsucht nach Ganzheit bedeutet für mich, dass ich lerne, alle Seiten in
mir als mir zugehörig und mir anvertraut zu betrachten – und damit auch die Möglichkeit
erlange, das Andersartige, das Fremde, mich vielleicht Ängstigende beim
Anderen als Teil eines Ganzen (biblisch gesprochen: eines Leibes) anzusehen.
Ich möchte, dass ich mehr und mehr in der Lage bin, Unterschiede als bereichernd
zu empfinden und das Verbindende zu leben.

2. Mein Streben nach Befreiung richtet sich auf das Abstreifen der Fesseln, alles
dessen, was mich ängstigt und einengt in meinen Möglichkeiten. Ich bin überzeugt,
dass wir Menschen – in Übereinstimmung mit der Botschaft Jesu – auf innere
Befreiung hin angelegt sind. Diese Art Befreiung wünsche ich auch meinen
Mitmenschen. Ich möchte dazu beitragen, dass immer mehr Menschen sich frei
fühlen können, den Einflüsterungen von Verführern zu widerstehen, die Haß und
Feindschaft und Gewalt predigen und die Menschen erniedrigen anstatt sie als
mündige Partner zu betrachten. Ich möchte helfen, dass sie sich frei fühlen können
von Angst, aus der häufig Gewaltbereitschaft erwächst, dass sie frei werden
von Not und Zwang und sich den positiven , aufbauenden Kräften zuwenden
können
3. Wir Quäker sprechen vom Licht in jedem Menschen und meinen damit, das, was
von Gott in jedem einzelnen aufleuchten kann. Es sind Verheißungen der Liebe
Gottes, die Hoffnung und Vertrauen schafft und Menschen zueinander führt, die
Zusage einer Verbundenheit alles Lebendigen, dessen was werden will, in uns
und anderen. Es ist das Vertrauen, dass alle an dem, was uns verbindet und
trägt, am Licht also, teilhaben sollen und können– und dass jede und jeder Einzelne
dazu beitragen kann, dass dieses Verbindende wahrgenommen wird und
leuchten kann.
Marianne Williamson hat das, was mir ein Anliegen ist, auf wunderbare Weise zusammengefaßt,
zitiert von Nelson Mandela in seiner Antrittsrede: “Und wenn wir unser
Licht erstrahlen lassen, geben wir unbewußt auch den anderen Menschen die
Möglichkeit, dasselbe zu tun. Wenn wir uns von unserer Angst befreit haben, wird
unsere Gegenwart ohne unser Zutun andere befreien.”
Ich verstehe die hier beschriebene Arbeit (also für mein Ganzwerden, mein Befreitsein
und meine Fähigkeit zu leuchten) sowohl als Fortentwicklung meiner Person
wie als Weg zum inneren Frieden, aber zugleich auch als Grundlage meines Wirkens
in der Welt und für eine andere Zukunft.
Dabei - und das möchte ich deutlich bekennen - gerate ich immer wieder in Zeiten
der Dürre und fühle mich wie ein ausgetrockneter Bach. Und dennoch erwachsen
gerade auch daraus immer wieder neue Kräfte, die helfen Durststrecken und Zeiten
der Hilflosigkeit und Schwäche zu überwinden, wie sie in einem afrikanischen Segenswunsch
als “Gnade der Wüste” bezeichnet werden: “Er schenke Dir immer neu
die Gnade der Wüste:/ Stille, frisches Wasser und neue Hoffnung.”

5. “Same des Friedens werden”
Friedensarbeit in friedlosen Zeiten

Abschließend möchte ich unter diesem Motto (zu finden bei Zacharias 8,12) meine
derzeitige Arbeit noch etwas konkreter darstellen
Friedensarbeit ist e i n e r unter vielen möglichen, sich ergänzenden Ansätzen,
Weltverantwortung zu übernehmen. Auch aufgrund meiner Kindheitserfahrungen
habe ich mich bereits vor fast 50 Jahren entschieden, hier meine Kräfte einzusetzen.
Dabei verstehe ich Friedensarbeit in einem sehr breiten Sinn als Bemühen um
Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen, als Eintreten für deren Teilhabe
an politischen und anderen sie betreffenden Entscheidungen, als Plädoyer für
vielfältige kulturelle Identität und zugleich als Überwindung des Trennenden zugunsten
von Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit. Ich baue dabei auf die Lernfähigkeit der Menschen und ihre Sehnsucht nach Veränderungen und vertraue auf die
Ermutigung, die von einem gezielten Zusammenwirken ausgehen kann.
Für mich, – und dies gilt ebenso für Konrad Tempel, – für uns also bedeutet die
strikte Ablehnung jeglicher kollektiver Gewaltanwendung und – androhung und
jeder willentlichen Beeinträchtigung von Menschen in ihren Lebensmöglichkeiten und
Entwicklungschancen eine tiefe und bislang unerschütterliche Gewißheit. Es ist uns
einfach nicht möglich, Krieg, Terror und militärische Gewalt auch nur als eine denkbare
Handlungsoption für uns anzusehen. Daran ändern auch rechtfertigende Gründe
wie “humanitäre Intervention” oder “Kampf gegen den Terrorismus” nichts. Wir
betrachten es als Geschenk, dass wir –auch wenn wir uns den Gegenpositionen
nicht verschlossen haben – sowohl in den Golfkriegen wie auch angesichts der militärischen
Intervention im Kosovo an dieser Überzeugung festhalten konnten.
.
Nach unserer gemeinsamen Arbeit gegen Aufrüstung und Militarisierung (z.B. durch
der Ostermärsche) stellt die Arbeit für Gewaltfreiheit und zur Gewaltprävention in
Form der konstruktiven Konfliktbearbeitung einen relativ neuen Schwerpunkt unserer
Friedensarbeit dar. Dies ist der Bereich ist, dem ich vor allem Kraft widme und in
dem ich seit 1994 politische Verantwortung übernommen habe.
Die Arbeit für einen Zivilen Friedensdienst, seine Umsetzung und Ausgestaltung
hat für mich viele Perspektiven, die mit meiner Vision einer zukünftigen Welt zusammenhängen
und mich dieser ein winziges Stück näher bringen. Ich sehe in der Entsendung
von ausgebildeten Friedensfachkräften in Krisenregionen nicht nur ein neues
Instrument der globalen Verantwortung, mit der wir als Zivilgesellschaft der zunehmenden
Militarisierung entgegensteuern. Ich erkenne zugleich die Möglichkeit ,
dadurch die Regierenden herauszufordern, die militärgestützte Außenpolitik zu hinterfragen
und Alternativen zu kriegerischen Interventionen entwickeln zu können –
und letzteres in Partnerschaft mit Regierungsstellen. Ich erkenne besonders auch die
positive Perspektive der Erprobung neuer Wege der Konfliktbearbeitung und Gewaltprävention,
der gewaltfreien Interessensdurchsetzung durch Ermutigung und Unterstützung
der Betroffenen und den aktiven Ausdruck unserer Solidarität mit den Opfern
von Gewalt und Einschüchterung. Ich sehe hier eine Chance zu menschheitlichem
Lernen. Die Zusammenarbeit mit einem Team von Gleichgesinnten und die
kleinen Erfolgsmeldungen, die uns – neben allen Problemanzeigen – immer wieder
erreichen, strahlen zurück in meinen Alltag und geben mir neue Kraft für die manchmal
erschöpfende Arbeit.
“Samen des Friedens werden” lesen wir bei Zacharias. Jedoch - nach 50 Jahren
vielfältigem Einsatz für den Frieden fragen Konrad Tempel und ich uns häufiger: Wozu
das alles? Was hat es gebracht? – um dann gemeinsam festzustellen, dass dies
für uns nicht die richtige Frage ist. Wir bereiten den Acker, so gut wir können, wir säen,
im Vertrauen darauf, dass die Saat aufgeht – aber die Ernte bleibt in der Regel
späteren Zeiten und anderen vorbehalten....... Gewiß aber hilft dazu auch die geistige
Begleitung unseres Tuns, das Gebet - und vielleicht ist es dies, wozu wir einander
(auch wir hier) vor allem brauchen.......