Was ich damals verschwiegen habe...

Konrad Tempel

Über eine Erfahrung während der ersten Ostermarsch-Jahre,
veröffentllicht in "Geschichen aus der Friedensbewegung / Persönliches und Politisches",
Komitee für Grundrechte und Demokratie, Köln 2005, S.51ff

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Ende der 80er Jahre war wieder einmal ein junger Forscher bei mir zuhause, um über die ersten Ostermarsch-Jahre zwischen 1960 und 65 zu recherchieren. Als das Gespräch auf meinen Rücktritt als Sprecher der aus den Ostermarsch-Aktivitäten hervorgegangenen Kampagne für Abrüstung und Demokratie kam, zitierte er aus meiner entsprechenden Erklärung und meinte auf mein Nachfragen hin, angesichts der vorhandenen Meinungsdifferenzen sei sie sehr fair gewesen. Er hatte wohl den Eindruck gewonnen, als hätten wir damals im Zentralen Ausschuss tiefgreifende Konflikte gehabt und als hätte ich den Anlass dazu benutzen können, diese Sachlage offenzulegen und meine internen Kontrahenten politisch bloß zu stellen.

In der Tat kamen die Mitglieder des Zentralen Ausschusses aus verschiedenen "Lagern", hatten infolgedessen ein unterschiedliches Politikverständnis und gingen von unterschiedlich differenzierten Gesellschaftsanalysen aus. Für die meisten von uns bürgerlichen Pazifisten, die wir den ersten (Stern)Marsch "gegen Atomraketen in Ost und West" von Hamburg, Bremen, Braunschweig, Göttingen und Hannover aus organisiert haben, waren die Argumente derjenigen, die in der Arbeiterbewegung, sei es in der Naturfreundejugend, in Gewerkschaften oder in sozialistischen Zusammenhängen verwurzelt waren, anregend und eröffneten Perspektiven. Auch im Rückblick erscheinen mir viele ihrer Ideen und Argumentationen "politischer" und stärker als unsere eigenen. Unsere Beschlüsse hatten wir nach wechselseitiger Überzeugungsarbeit in manchmal harten Diskussionen üblicherweise einvernehmlich gefasst. Und doch traf die indirekte Nachfrage des Wissenschaftlers einen wunden Punkt bei mir. In meiner Rücktrittserklärung hatte ich nämlich nicht alle Motive, nicht die ganze Wahrheit erwähnt. Dies ist der andere Teil der "Wahrheit":

Im Laufe der Zusammenarbeit im Zentralen Ausschuss gewann ich den Eindruck, dass einige Teilnehmer sich vorher über Besprechungspunkte und ihre Strategie innerhalb der Beratungen verständigt, wahrscheinlich sogar abgestimmt hatten. Obwohl ich ihr Engagement sehr schätzte, ging mir das gegen den Strich. In Gesprächen mit dem Aktionskreis für Gewaltlosigkeit, aus dem wir als Initiatoren kamen, überlegten wir, ob wir uns ähnlich verhalten sollten. Schließlich begann ich, inhaltliche Fragen im Kreis der mir vertrauten Leute bundesweit vorher durchzusprechen, nicht nur um ein Gegengewicht in den Beratungen des Zentralen Ausschusses zu bilden, sondern um - mit durchaus veränderter Blickrichtung gegenüber unserer bisherigen Offenheit – für unsere Positionen breiteste Zustimmung zu gewinnen. Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass ich angefangen hatte zu manipulieren, was meinen Ansprüchen diametral entgegengesetzt war. Diese Einsicht war ein Hauptmotiv für meinen dann folgenden Rücktritt als Sprecher des Zentralen Ausschusses – und damit ein wesentlicher, nicht ausgesprochener Teil der Wahrheit. Zu unserer Freude verständigten wir uns im Zentralen Ausschuss auf unseren Freund Andreas Buro als meinen Nachfolger, der ebenfalls aus dem pazifistischen Spektrum kam und auch bei denen hochgeschätzt war, die ihre politischen Erfahrungen in der Arbeiterbewegung gesammelt hatten. Ihm gelang es, die unterschiedlichen politischen Kräfte "an Bord" zu halten. So wurde die Kampagne für Abrüstung und Demokratie nach 1964 zu einem wirkungsvollen Instrument zivilgesellschaftlichen Handelns, bereitete die Brandtsche Ostpolitik vor, regte die Studentenbewegung an und schuf Raum für den außerparlamentarischen Kampf gegen die Notstandsgesetze.